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RE: Zum Rechtsruck im Bürgerrat zur Rettung des Erfurter Wiesenhügel |
Beitrag Kennung: 66353
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Braune Trittbrettfahrer bei Sozialprotesten
Immer mehr Bürgerinitiativen werden von Rechtsextremen unterwandert. Jüngstes Beispiel: Der Erfurter Bürgerrat
Abrisspläne für den Erfurter Wiesenhügel sorgen für Aufregung in der Stadt. Mehr und mehr mischen sich Neonazis unter die sozialen Proteste.
Donnerstagsdemo in Erfurt: Ulrich Walluhn versteht die Welt nicht mehr. Der Vorsitzende und Gründer der Bürgerinitiative Bürgerrat fühlt sich missverstanden und abserviert. Trotzig stehen er und sein Mitstreiter, der »freie Marxist« Bernhard Petri, am Rand der Demo auf dem Erfurter Anger. »Ein kluges deutsches Wort – schon ist man Neonazi«, regt Walluhn sich auf.
Deutsch und national – damit hat der erwerbslose Informatiker keine Berührungsängste. Das hatte er am Tag zuvor bewiesen, als der Bürgerrat eine Protestdemo gegen den geplanten Verkauf von Wohnhäusern durch die kommunale Wohnungsgesellschaft KoWo im Neubaugebiet Wiesenhügel durchführte. Mit Technik und Personal dabei: etwa 30 Neonazis, darunter der Erfurter Patrick Paul, parteilos. Walluhn lobt die Veranstaltung: »Marxisten, Christen, nationale, linke und politisch nicht zuzuordnende Kräfte« hätten »ohne Ausschreitungen« für ein gemeinsames politische Ziel demonstriert.
Keine Gegenplakate
Widerstand gab es keinen – anscheinend waren die Erfurter völlig baff. »Nicht ein einziges Gegenplakat« sei zu sehen gewesen, keine Protestaktionen, berichtet Stefan Heerdegen von der Mobilen Opferberatung in Thüringen. Ungehindert habe Patrick Paul vor dem Rathaus Nazipropaganda verbreiten können. Paul, für Walluhn ein »deutschnationaler Patriot«, ein »Mann ohne Fehl und Tadel«, bezeichnet sich selbst als »Freien Nationalisten«. Er wird mehrfach im aktuellen Verfassungsschutzbericht Thüringens genannt. Der Student der Rechtswissenschaften gilt als einer der intellektuellen Köpfe der Erfurter Neonaziszene, als »Schnittstelle zwischen Freien Aktivisten und der NPD«, so das Antifa-Recherche-Team. Paul ist zudem Vorsitzender des Vereins »Schöner leben in Erfurt« und Mitherausgeber der »Bürgerstimme!«, einer Nazipostille in 20 000er Auflage, die sich unparteiisch gibt und Erfurtern und Arnstädtern monatlich ungefragt ins Haus flattert.
Lokal und sozial: Wo große Parteien sich oft in Sachzwängen und Koalitionsdruck verlieren, sieht die NPD eine Einflugschneise in den Landtag und Kommunalparlamente. »Das soziale Thema ist die große Kampfstätte, wo wir uns in den neuen Bundesländern sehen«, hatte 2005 ein parlamentarischer Berater der sächsischen NPD als Parole ausgerufen. In Thüringen, wo NPD und Freie Kameradschaften eng verbunden sind, haben die Rechten ihre Hausaufgaben gemacht: Protestaktionen gegen Kürzungen an Thüringer Theatern, die Aufstellung von Windkrafträdern an der Eisenacher Wartburg oder gegen die Kindergartenpläne der Landesregierung. Und seit Kurzem: Teilnahme an den Erfurter Donnerstagsdemos. Die »aktiven Mitglieder der Kreisverbände« sollten »verstärkt Kommunalpolitik betreiben«, lautet eine Order des NPD-Landesvorstandes – in Vereinen und gemeinnützigen Organisationen, Stadtrats- und Kreistagssitzungen, in Feuerwehr und Sportvereinen. Kurz gesagt: Bei allem mitmischen, was die Thüringer bewegt.
Abseits von Populismus und Wahlkampfkalkül: Wie nah sind die Rechten den Sorgen der Erfurter wirklich? Für viele Bewohner des Wiesenhügels hat sich der Bürgerrat mit der Aktion selbst disqualifiziert. »Herr Walluhn macht alles kaputt«, sagt Werner Melzer. »Der Mann hat einen Knall«, meint Ingeburg Koncz. Beide halten nichts von Nazis, finden es »unmöglich«, dass die rechte Szene mitmischt. Beide sind mit ihren Familien direkt vom KoWo-Beschluss betroffen, werden demnächst aus dem fünfstöckigen Plattenbau ausziehen, in dem sie seit 22 Jahren leben.
Schon heute steht vorm Haus ein Umzugswagen. Werner Melzer ist damit beschäftigt, für einen umziehenden Nachbarn Kartons zu transportieren. Auf dem Dach seines Autos flattert ein schwarzes Trauerbändchen. »Das ist, weil wir hier wegmüssen«, sagt der Lehrer im Ruhestand. »Wir ziehen alle aus.« Totentanz. Ende September macht auch die Kaufhalle um die Ecke dicht.
Die Wohnungsverwaltung hat ihr Geld lieber in andere Neubaugebiete wie den Herren- und den Drosselberg gesteckt. »Wir haben uns immer gefragt, wann hier saniert wird«, sagt Ingeburg Koncz. Doch dazu wird es in aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr kommen.
Die KoWo ist pleite, musste bereits 5000 Wohnungen verkaufen. Investitionen am Wiesenhügel, wo einer Studie zufolge 2020 etwa 1000 Wohnungen leerstehen würden, lohnen sich nicht. Zudem läuft 2009/10 der Stadtumbau Ost aus, die Geldquelle für einen Abriss würde damit versiegen. Doch weil der Unmut der Erfurter nicht zu ignorieren war, hat die KoWo eingelenkt und drei neue Varianten entwickelt: 500 Wohnungen sanieren, die anderen 500 zunächst bis 2009 stehen lassen und dann in den unterschiedlichen Versionen zum Teil sanieren, zum Teil zurückbauen, zum Teil stilllegen.
Langer Atem ist nötig
Indes wächst der Widerstand gegen die braunen Trittbrettfahrer. Zur letzten Donnerstagsdemo hatten die Veranstalter alle demokratischen Kräfte um Unterstützung gebeten. Überall waren Sticker mit durchgestrichenen Hakenkreuzen zu sehen. Die Organisatoren wissen, dass sie einen langen Atem brauchen. »Das wird noch ein Problem«, sagt Brigitte Czentarra vom Bündnis für soziale Gerechtigkeit. »Doch wir lassen uns nicht unterkriegen.« Leicht wird das nicht, denn anders als die Nazis hat das Bündnis keine einfache Antworten oder Sündenböcke zu bieten.
(Neues Deutschland)
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