Die apokalyptischen Visionen, die fast die ganze Offenbarung ausmachen, sind in den meisten Fällen wörtlich den klassischen Propheten des Alten Testaments und ihren späteren Imitatoren entnommen, angefangen mit dem Buch des Daniel (ungefähr 160 v.u.Z., das Dinge prophezeite, die Jahrhunderte vorher geschehen waren) und endend mit dem "Buch des Henoch", einem apokryphischen Elaborat in griechischer Sprache, nicht lange vor Anfang unserer Zeitrechnung geschrieben. Die ursprüngliche Erdichtung, selbst die Gruppierung der plagiierten Visionen, ist äußerst armselig. Professor Ferdinand Benary, dessen Vorlesungsreihe an der Berliner Universität im Jahre 1841 ich das Folgende verdanke, hat unter Angabe von Kapitel und Vers nachgewiesen, woher unser Autor jede einzelne seiner angeblichen Visionen genommen hat. Es ist deshalb nutzlos, unserem "Johannes" in all seinen närrischen Einfällen zu folgen. Wir sollten vielmehr sofort zu dem Punkt kommen, der das Geheimnis dieses auf jeden Fall merkwürdigen Buchs aufdeckt.
Im vollkommenen Gegensatz zu all seinen orthodoxen Kommentatoren, die alle erwarten, daß seine Prophezeiungen noch eintreffen, nach mehr als 1.800 Jahren, hört "Johannes" niemals auf zu sagen:
"Die Zeit ist nahe, dies alles wird in Kürze geschehen."
Und das trifft besonders auf die Krise zu, die er voraussagt und die er offenbar zu sehen erwartet.
Diese Krise ist der große entscheidende Kampf zwischen Gott und dem "Antichrist", wie andere ihn genannt haben. Die entscheidenden Kapitel sind die Kapitel 13 und 17. Lassen wir alle überflüssigen Ausschmückungen fort: "Johannes" sieht ein Tier aus dem Meer steigen, das |13| sieben Häupter und zehn Hörner hat (die Hörner interessieren uns überhaupt nicht).
"Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund; und seine tödliche Wunde ward heil."
Dieses Tier sollte für 42 Monate (eine Hälfte der heiligen sieben Jahre) Macht über die Erde gegen Gott und das Lamm haben, und alle Menschen sollten während dieser Zeit gezwungen sein, das Malzeichen dieses Tieres oder die Zahl seines Namens an der rechten Hand oder an der Stirn zu tragen.
"Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666."
Im zweiten Jahrhundert wußte Irenäus immer noch, daß mit dem verwundeten und geheilten Haupt der Kaiser Nero gemeint war. Nero war der erste große Verfolger der Christen. Bei seinem Tode verbreitete sich besonders in Achaja und Asien das Gerücht, daß er nicht tot, sondern nur verwundet sei, und daß er eines Tages wieder erscheinen und über die ganze Welt Schrecken verbreiten würde (Tacitus, Hist. II, 8 ). Gleichzeitig kannte Irenäus eine andere sehr alte Lesart, wonach der Name die Zahl 616 an Stelle von 666 ergab.
Im Kapitel 17 erscheint das Tier mit den sieben Häuptern wieder, diesmal von der wohlbekannten scharlachroten Dame beritten, deren gefällige Beschreibung der Leser im Buch selbst nachsehen kann. Ein Engel erklärt dort dem Johannes:
"Das Tier, das du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht ... Die sieben Häupter sind sieben Berge, auf welchen das Weib sitzt, und sieben Könige. Fünf sind gefallen, und einer ist, und der andere ist noch nicht gekommen; und wenn er kommt, muß er eine kleine Zeit bleiben. Und das Tier, das gewesen ist und nicht ist, das ist der achte und ist von den sieben ... Und das Weib, das du gesehen hast, ist die große Stadt, die das Reich hat über die Könige auf Erden."
Hier haben wir also zwei klare Angaben: 1. Die scharlachrote Dame ist Rom, die große Stadt, die über die Könige der Welt regieret; 2. zur Zeit, da das Buch geschrieben wird, regiert der sechste römische Kaiser; nach ihm wird ein andrer kommen, der kurze Zeit regiert, und dann kommt die Rückkehr des einen, der "von den sieben ist", der verwundet, aber geheilt war und dessen Name in der geheimnisvollen Zahl enthalten ist, und von dem Irenäus noch wußte, daß es Nero war.
Beginnen wir bei Augustus, so haben wir Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero als Fünften. Der Sechste, der ist, ist Galba, dessen |14| Thronbesteigung das Signal für einen Aufstand der Legionen war, besonders in Gallien, geführt durch Otho, Galbas Nachfolger. Demzufolge muß unser Buch unter Galba geschrieben worden sein, der vom 9. Juni 68 bis zum 15. Januar 69 regierte. Es sagt die Rückkehr Neros als bevorstehend voraus.
Aber nun zum entscheidenden Beweis - die Zahl. Auch diese ist von Ferdinand Benary entdeckt und seitdem niemals in der wissenschaftlichen Welt abgestritten worden.
Ungefähr dreihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung begannen die Juden, ihre Buchstaben als Symbole für Zahlen zu benutzen. |