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RE: Kassiererin darf wegen 1,30 Euro gefeuert werden |
Beitrag Kennung: 291034
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So, endlich Feierabend und etwas Zeit, ich kau das jetzt mal Stueck fuer Stueck durch, mir is grad so:
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spidy hat am 20. Juli 2009 um 14:21 Uhr folgendes geschrieben:
Für eine Kündigung durch den Arbeitgeber beträgt die Kündigungsfrist, wenn das Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen
2 Jahre bestanden hat, 1 Monat zum Ende eines Kalendermonats,
...
10 Jahre bestanden hat, 4 Monate zum Ende eines Kalendermonats,... |
10 Jahre sind gerade so ziemlich die Zeit in der ich herumwirtschafte. D.h., ich haette eine Frist von 4 Monaten (NICHT 4 Wochen!) bis ich meine treuen langjaehrigen Mitrbeiter nicht mehr bezahlen muesste. Wie sieht das nun in der Praxis aus?
Im aktuellen Beispiel "Wirtschaftskrise" z.B. blieben seit 3 Monaten die Auftraege aus. Angebote werden von mittelstaendischen Firmen, Krankenhäusern u.a. (meine Kunden) aufgeschoben, nicht weil kein Geld da wäre, sondern weil man die wirtschaftliche Lage abwarten möchte (ziemlich jeder mit dem ich rede hat ähnliche Erfahrungen). Ich krieg also seit 3 Monaten kein Geld rein, weiss aber ziemlich sicher dass es im Herbst weitergeht. Welche Möglichkeiten hab ich nun?
1. Ich bin Hellseher und weiss einen Monat bevor es "bergab" geht, dass ich 2 von 10 Leuten entlassen muss, kündige diese und hab sie zum heutigen Zeitpunkt "los". Vor vier Monaten hab ich als Kündigungsgrund angegeben "Eine Auftragsflaute wird kommen, in 4 Monaten kann ich euch nicht mehr bezahlen, auch wenn es grad noch gut laeuft ... doch ... glaubt mir ... und übrigens die aktuellen Projekte müsst ihr auch noch mit vollem Einsatz fertigmachen. Loyal zur Firma, hugh!".
2. Ich zieh sie so mit durch die 3 Monate, versuche Auftraege an Land zu ziehen, entlassen will man ja eigentlich niemanden, muss vollen Lohn zahlen, keiner hat richtig zu tun, Kohle geht zur Neige, Konto im Minus. Fange ich jetzt mit Kündigen an, muss ich noch 4 Monate weiterzahlen. Alternativ kann ich sofort kuendigen und riskiere übelste Abfindungen zahlen zu muessen, was aufs selbe rauskommt. Mein Buchhalter und Rechtsanwalt sagen mir dass ich Insolvenz anmelden muss, verschlepp ich das, werd ich noch strafrechtlich belangt. Die Firma geht pleite, wird vom Insolvenzverwalter zerstueckelt, abgewickelt und bestenfalls noch verkauft.
3. Ich bin davon ueberzeugt dass nach jeder Krise ein Hoch kommt, und dass im Herbst die ganzen Auftraege nachkommen. Also beantrage ich bei der Bank einen Kredit, um meine Leute ueber die Zeit zu bezahlen (Kurzarbeit hilft kaum beim sparen, die 20% an Lohnkosten die man im Endeffekt einspart retten auch nix). Nun ist es der Bank arg suspekt dass ich meine Leute nicht bezahlen kann, und macht mir zu Auflage 2 Leute zu entlassen damit ich den Kredit kriege. Da hab ich die Wahl: 2 Leute sofort raus oder die Firma wieder kaputt.
Als Arbeitnehmer vergisst man gerne, dass Entlassungen auch fuer Personalchefs und Arbeitgeber keine angenehme Sache sind. Sag mal jemandem ins Gesicht dass er nicht mehr benoetigt wird und künftig von Staatshilfe leben muss. Ich kenne nur einen Geschaeftsführer der das gerne macht, aber der hat eh ein Rad ab und ist die absolute Ausnahme. Entlassungen sind eigentlich immer die letzte Option, es sei denn natuerlich der/die Mitarbeiter/in schadet der Firma in irgendeiner Weise.
4. Was ich mir in so einer Situation wuenschen wuerde: Arbeitnehmer kurzfristig (1..4 Wochen) entlassen zu koennen. Diese würden sofort zu 100% ALG I beziehen, schliesslich habe ich als AG ja lange genug in diesen Topf eingezahlt. 100% weil es vielen schwerfaellt von heute auf morgen ihre Ausgaben um 40% zu drosseln. Der AN koennte selber entscheiden wie lange und in welcher Hoehe er ALG I bezieht, halt ausgehend von seiner Einzahlzeit in diesen Topf. Die AL-Versicherung wäre dann eine Art Ruecklage für Arbeitnehmer. Man koennte die Auszahlung auch degressiv gestalten, von anfangs 100% auf 50% nach 12 Monaten (ich hab immer noch die Fließbandarbeiter von Krupp/Thyssen/VW/BMW/Audi im Ohr die im Fernsehn rumgejammert haben dass sie mit ihren ca. 4000€ ALG I nich mehr klarkommen ....) um sich dran zu gewoehnen. Tja und wenns der Wirtschaft nach dem Jahr wieder besser geht, sind sie ja wieder gefragt und werden (bzw. würden) schneller wieder eingestellt. Denk ich mal.
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Was mich an den Kritikern des Kündigungsschutzes besonders irritiert ist der Umstand das es den Kündigungsschutz in seiner jetzigen Form schon 40 Jahre gibt, das es in der alten BRD Krisen gab, und Arbeitslosigkeit, und es gab Zeiten des Booms und den Rückgang von Arbeitslosigkeit. |
Nun, die Zeiten sind dynamischer geworden. Im letzten Jahrtausend waren Auftragslagen sowohl im Mittelstand als auch bei den Konzernen relativ stabil, man konnte damit rechnen dass der Umsatz wenn dann nur allmählich über Monate/Jahre zurückging. Da konnte man sein Personal mit der Zeit durch "natürliche Selektion" verschlanken.
Heute haben wir Branchen wo in wenigen Monaten 50% der Umsätze wegbrechen. Manchmal mit Schuld des Managements, manchmal ohne. Die Firmen haben dann keine Chance auf so etwas zu reagieren. Wäre Opel in der Lage, 20% der Mitarbeiter kurzfristig zu entlassen, wären sie nicht insolvent (ok sie haben auch Schei$$e gewirtschaftet - aber auch darauf muss man mal reagieren koennen). Man kann fast sagen, der Kündigungsschutz für wenige Betroffene sorgt dafür dass auch viele eigentlich nicht betroffene drunter zu leiden haben. Es ist jedenfalls ein Unding dass Firmen gleich komplett die Hufe hochnehmen nur weil man den Laden nicht verschlanken kann.
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Jedoch fällt es den Leuten in den letzten 5 Jahren auf das der Kündigungsschutz angeblich Einstellungen verhindern würde. |
Ja, willkommen im neuen Jahrtausend, wir haben Globalisierung, dynamische, offene Maerkte. Nicht der groesste ist der Gewinner (siehe Siemens), sondern der Schnellste (siehe Google). Was Du heute in Kuhdorf X erfindest, kannst Du morgen in der ganzen Welt verkaufen. Zwei Studenten mischen die Welt mehr auf als eine hundert Jahre alte deutsche Firma. Die Wirtschaft ändert sich rasant, nur die deutsche Bürokratie hält sich eisern.
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Ja mein Gott es gibt Arbeitskräfteverleihfirmen, es gibt die Möglichkeit der befristeten Arbeitsverträge die ja auch noch mehrmals befristet verlängert werden können. Es gibt Einarbeitungszeiten in denen der Arbeitnehmer auch noch für deutlich weniger Lohn arbeitet. Es gibt sogar die Möglichkeit den potentiellen Arbeitnehmer in der Form eines Praktikums auf Kosten der Arbeitsämter oder bei Behinderten auf Kosten der LVA, auf Herz und Nieren zu prüfen. |
Ist Dir eigentlich klar was Du hier dem AN abverlangst? Wir hatten schon Kräfte von Verleihern da. Bezahlen tut man da 30€/h, verdienen tun die armen Schweine 5..7€/h. Und das in der IT-Branche. Ausbeutung ohne Ende. Einarbeitszeit/Praktikum tun hier nichts zur Sache, schliesslich geht es darum flexibel auf Marktanforderungen - oder in Emmely's Fall auf ihr renitentes Wesen - zu reagieren (siehe letzter Absatz). Ich will doch nicht jahrelang nur Praktikanten/Einarbeiter beschaeftigen muessen.
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Was soll man denn noch den Arbeitgebern alles in den Allerwertesten schieben damit Arbeitsplätze geschaffen werden. |
Du KANNST keine Arbeitsplätze schaffen in dem Sinne dass Du mit irgendeiner Zauberei mal eben 100 Leute in ein Beschaeftigtenverhaeltnis kriegst (das kann nur der Blixus). Die Formulierung regt mich schon im Wahlkampf immer so auf: "Wir schaffen xxx Arbeitsplätze! Jawollja!" 5chwachsinn. Werden die gedrechselt oder was? Aus China importiert? Die Politik ist dazu da, die Bedingungen zu schaffen, dass sich sowas wie eine Wirtschaft entwickeln und halten kann. Der Rest ergibt sich von alleine, es gibt immer Leute die gut im Organisieren und rummachen sind, und andre wollen halt einfach arbeiten. Man muss den Organisierern ihre Organisiererei nur schmackhaft machen. Noch ein paar Beispiele wie man's nicht macht?
- Firmenneugruendung: sofort eine Betriebspruefung vom Finanzamt. Die neue Firma gleich am Anfang mit bürokratischem Schei$$ tagelang gelähmt. Könnte ja irgendwas hinterziehen.
- Abzocke: im Gewerbegebiet etablierten Firmen wird nach 20 Jahren nochmal ne Abwassergebühr in Höhe von zigtausend Euro abgefordert, obwohl damals bei Erschliessung alle schon anteilig gezahlt hatten. Das Werk brauchte halt Geld.
- Umlabelung: ein Freiberufler wird nach Jahren seiner Tätigkeit als Gewerbetreibender eingestuft, weil er inzwischen genug Kohle verdient um jetzt auch Gewerbesteuer abzudruecken. Eine feste Definition, was Gewerbe und Freiberuf ist, gibt es nicht, alles Ermessenssache des Finanzamts. (Der Typ wirtschaftet übrigens heute so dass er unter dem Freibetrag bleibt - Eigentor fuer den Staat.)
- Körperschaftssteuer: zahlt eine Firma im Zuge ihrer Vorauszahlungen mehr Steuern als sie muesste, gab es im Rahmen der Steuererklärung in der Vergangenheit Geld zurück. Neuerdings behält das FA das Geld und verrechnet das mit künftigen Zahlungen. Das FA behält also Geld, was ihm weder zusteht noch gehört. Dem wurde von der Justiz auch schon durch ein Urteil stattgegeben.
Na? Noch Lust als AG tätig zu werden? Seit Jahren nimmt die Auswanderungsrate in Deutschland zu, in den letzten Jahren vor allem von Intellektuellen und "Besserverdienenden". Kein Wunder.
Die Politik muss niemandem was in den Arsch schieben. Es reicht schon wenn sie guenstige Rahmenbedingungen schafft.
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Dann zahle doch gar keinen Lohn, ich hatte auch schon Arbeitgeber die mal so nebenbei die Lohnzahlungen nicht vorgenommen haben, weil sie Geld für wichtigere Dinge wie einen Erholungsurlaub mit der Familie, gebraucht haben (sind unterm Strich ein paar tausend Euro) Vorteil die Angestellten arbeiten erstmal eine Weile umsonst gut die fangen irgendwann an rumzumaulen, aber kündigen werden die ganz bestimmt selbst. Und bevor Dir das Amt die Bude zusperrt machst Du das selbst und meldest das ganze unter anderem Namen wiedeer an. Ist übrigens sehr beliebt bei Unternehmern. |
Ja, solche Unternehmer gibt es. Kenn ich auch einen. Ich kenn auch faule und fleissige Hartzies. Ich kenne Arbeitnehmer die reissen sich für ihren Laden den Arsch auf, andre gehen noch vor Feierabend nach Hause. Man findet wirklich für jeden Fall ein Beispiel.
Um auf Dein Beispiel einzugehen: Wenn man an so ein Unternehmen geraten ist, fällt es doch viel leichter dort schnell zu kündigen, wenn man woanders eher wieder eingestellt wird. In Russland wird z.B. alles per Vorkasse bezahlt, nurmalso zum nachdenken ....
Und um mal wieder auf unsere Kassiererin zu kommen: Die gute Frau hat seit 30 Jahren dort (oder zumindest in der Branche) gearbeitet und ihr Einkommen gehabt. Als Herr Tengelmann wäre ich schon arg sauer, wenn die auf einmal mit streiken anfängt und auch nicht wieder aufhoert wenn ihre Kollegen es schon gar nicht mehr für nötig halten. Eine Angestellte die Rabatz macht und längere Zeit nicht arbeiten will? Da wuerd ich aber auch prüfen was ich für legale Möglichkeiten hab die "umzutauschen". Stell Dir vor Dein angeheuerter Klempner setzt sich vor Deinen Rohrbruch und macht erstmal nix weil seine Gewerkschaft das so von ihm will.
So, langer Text geworden ... jetzt hab ich aber Hunger.
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