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Nur der Kapitalismus kann sich einen Sozialstaat leisten
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RudiRatlos Benutzerkonto wurde gelöscht
26.04.2009 ~ 01:39 Uhr ~ RudiRatlos schreibt:
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Nur der Kapitalismus kann sich einen Sozialstaat leisten |
Beitrag Kennung: 252473
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Joachim Gauck, Pfarrer, Mitbegründer des Neuen Forums bringt hier zum Ausdruck das es wenig Sinn macht Altem, Überholtem nach zu trauern sondern vielmehr den Blick nach vorn zu richten und aktiv an der Vergangenheitsbewältigung und der Überwindung der gegenwärtigen Krise mit zu wirken.
Hier nun ein Auszug aus der „Berliner Rede zur Freiheit“, die Gauck, Theologe und ehemals Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen, am Dienstag auf Einladung der „Friedrich-Naumann-Stiftung“ gehalten hat.
Joachim Gauck erklärt, warum nicht nur Ostdeutsche mit der Freiheit fremdeln und wundert sich über westliche Fluchtreflexe hin zum Sozialismus.
Zitat: |
Seit langem herrscht eine Stimmung im Land, als hätten wir einen virtuellen Artikel 1 in unserer grundgesetzlichen Charta: Die Besitzstandswahrung ist unantastbar. Der echte Artikel 1 aber lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Beglaubigt und geschützt durch die Grundrechte, die Rechtsordnung, das Bundesverfassungsgericht und den sozialen Rechtsstaat – was keineswegs selbstverständlich ist. Das Land, aus dem ich komme, kannte all dies nicht. Wie aber kommt es, dass Menschen, die Freiheit und Demokratie tatsächlich leben können, bei Meinungsumfragen fast immer eine große Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen an den Tag legen? Dass sie unser Gesellschaftssystem für ungeeignet halten, anstehende Probleme zu lösen? Dass einigen sogar der Sozialismus wieder etwas gilt – nicht nur im Osten, sondern auch nach 60 Jahren Demokratie im Westen?
Selektive Erinnerung ist gefährlich
Es fällt es auf, dass gerade im Osten, wo die Freiheit wagemutig und dynamisch vor zwanzig Jahren gefordert wurde, eine spürbare Fremdheit gegenüber der offenen Gesellschaft existiert. Was auf den ersten Blick wie eine Rückbindung dieser Menschen an den Sozialismus erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen jedoch stärker noch als eine Bindung weitaus problematischerer Art. Es ist weniger die Ideologie, die sich in ihnen eingenistet hat. Es sind Mentalitäten und Haltungen, bestimmte Unterwerfungs- und Karrieremuster, eine in zwei Diktaturen gewachsene Abhängigkeit von „denen da oben“, die die meisten weiter in einem Zustand der politischen Apathie und Ohnmacht hält.
Natürlich hat sich nicht jeder angepasst. Nicht jeder wollte Karriere um jeden Preis machen. Die Mehrheit verhielt sich abwartend, überwinterte in Nischen. Aber selbst, wer Distanz zum System hatte, konnte seinen Strukturen nicht entfliehen. Er konnte bestenfalls kleine kulturelle Alternativen leben, politisch verharrte er wie alle in Ohnmacht. Das aber wird ungern erinnert. Konsequent setzt ein Teil der Bevölkerung auf selektive Erinnerung – von Ostalgie ist viel die Rede. Diese Erinnerung, die alles Unangenehme auslässt, ist unpolitisch, wenn auch nicht ohne politische Auswirkungen. Meines Erachtens viel zählebiger und vielleicht gefährlicher, als die politische Nostalgie einer bestimmten Partei, in der sich neben linken Demokraten zahlreiche rote Reaktionäre tummeln und eine Verschleierung, Bagatellisierung und Verniedlichung der Diktatur betreiben.
Historisch gewachsene Mentalitätsmauer
Wir kennen das Bedürfnis aus der Nachkriegszeit, als große Bevölkerungsgruppen zunächst die Fakten der NS-Zeit leugneten oder ignorierten, sie später nolens volens anerkannten und erst ganz zuletzt die Schuld annahmen. Wir wissen, wie schwer dieser Prozess der Aufarbeitung fällt, da er die Einzelnen und die Gesellschaft durch Scham, Reue und Trauer führt. Zwar hat der Staat durch Aktenöffnung die politische, historische und justitielle Aufarbeitung gefördert, doch den langen Weg einer inneren, selbstkritischen, einer umkehr- und trauerbereiten Aufarbeitung kann der Staat der Gesellschaft nicht abnehmen. Diesen Prozess einer mehrfachen Begegnung mit früh erfahrenen Traumata, tief eingegrabenen Prägungen einschließlich der späten kathartischen Elemente hat der Osten noch nicht ausreichend erlebt. Ihm hat kein Ehepaar Mitscherlich ein Buch über „Die Unfähigkeit zu trauern“ zur allgemeinen Auseinandersetzung präsentiert.
Der Osten unseres Landes ist erkennbar von einer anderen politischen Kultur geprägt als der Westen. Hier haben wir es mit einer Transformationsgesellschaft, dort mit einer Zivilgesellschaft zu tun. Wer diese Feststellung als diskreditierend deutet, hätte mich missverstanden. Ich spreche in Bezug auf Ostdeutschland nicht von einer minderwertigen oder moralisch abzuwertenden Kultur, rede also nicht von einer Charaktermauer, die uns trennt. Vielmehr spreche ich historisch gewachsene Mentalitätsunterschiede an, die wenig mit Charakter, aber sehr viel mit unterschiedlichen Trainingsmöglichkeiten zu tun haben.
Ich weiß, dass ich für einen schwierigen Weg plädiere, aber unser Ja zur Freiheit gewinnt an Tiefe und Substanz, wenn ihm ein entschlossenes Nein zur Unfreiheit vorausgeht. Mit der Erinnerung an die Unfreiheit rufen wir Gefühle ins Leben, die wir uns einst verboten und zum Teil abgetötet haben – Wut, Zorn, Scham, auch Trauer über das Unrecht und die Unfreiheit, die wir nicht Unrecht und Unfreiheit nennen durften, oder vielleicht auch nicht wollten. Wer diese Erinnerung als triste Schlechtwetterfront ansieht, die es zu meiden gilt, bleibt emotional geblockt. Indem er sie aber zulässt, vollzieht er tief in seiner Psyche Abschied. Abschied nicht nur von einem politischen System, sondern von Geist und Prinzip der Unfreiheit, von der Ohnmacht. Ein Erlebnis aus meiner Vergangenheit mag das illustrieren.
Im DDR-Alltag wurde das Unnormale zum Normalen erklärt
Eine Rostocker Familie macht einen Sonntagsspaziergang, tief in DDR-Zeiten. Sie stehen in Warnemünde auf der Mole, zwei Jungen an der Hand ihrer Eltern. Ein großes, weißes Schiff fährt aus dem Hafen hinaus auf das Meer. Die Jungen zum Papa: „Wie schön! Da wollen wir auch drauf!“ Der Vater: „Das geht nicht. Die Fähre fährt nach Dänemark.“ Die Kinder lassen nicht locker. „Aber da sind doch Menschen drauf.“ Der Vater: „Da dürfen nur Menschen aus dem Westen mitfahren.“ Die Kinder sind empört. Ihr Vater könnte jetzt sagen, auch er finde es falsch, sogar widerlich, eingesperrt zu sein. Aber er wird versuchen, die Kinder vor Traurigkeit zu bewahren. Sie sollen nicht denken und fühlen, dass sie Gefangene sind. Deshalb wird er ihnen erklären, dass sie noch zu klein sind, um das zu verstehen. Und dass das Eis am Strand von Warnemünde viel besser schmeckt als auf dem Schiff.
So haben wir das Unnormale oft zur Normalität erklärt, nicht nur für die Kinder, auch für uns. Indem wir uns Schmerz, Wut und Zorn ersparten, machten wir uns lebensfähig. Aber auch hart. Wir verloren die Fähigkeit, spontan auf Unrecht, auf Gefangenschaft und Unfreiheit zu reagieren, so wie ein Kind reagieren kann. Doch vergessen wir nie: Wir alle sind zur Freiheit geboren und nicht zur Gefangenschaft.
Wir werden in diesem Jahr noch häufig feiern, werden daran erinnern, dass nicht der symbolträchtige Mauerfall am 9. November das magische Datum ist, sondern der 9. Oktober in Leipzig und der 7. Oktober in Plauen: Ohne Freiheitsbewegung kein Mauerfall! Vor der Einheit kam die Freiheit! Genauer gesagt, die Befreiung, die beseitigte, was uns drückte und was wir loswerden wollten. Die Freiheit, die gestaltet und verantwortet werden will, lernen wir noch immer.
Was bedeutet Freiheit?
Vaclav Havel hat im Sommer 1990 von der „Angst vor der Freiheit“ gesprochen: Zwar wussten die meisten, dass sie vor 1989 in einem Gefängnis waren. Aber als die Mauern gefallen waren, war es schwierig, ohne klare Anweisungen und Begrenzungen zu leben. Die Weite da draußen machte auch Angst; mancher dachte an die Rationen, die spärlich aber pünktlich zugeteilt wurden – einst, da drinnen. Wer würde jetzt für alles sorgen, etwas man selber?
Es ist ein altes Thema in den Freiheitsdebatten, und dennoch will das Altbekannte von immer wieder neuen Menschen und Gruppen eingeübt sein. Das fällt schwer und dauert lange. Schon als Jugendliche können wir zwar etwas mit dem Wort Freiheit anfangen, in der Pubertät bedeutet das: Ich kann tun, was ich will. Als Erwachsener wandelt sich unser Freiheitsverständnis. Wenn wir einmal einen Menschen lieben, wenn wir uns einer Sache hingeben, machen wir den Anderen und das Andere zur eigenen Aufgabe: Wir leben Freiheit für einen Wert, einen Glauben, ein Ziel. Menschen verkümmern, wenn sie diese Art von Freiheit leben können.
Dies freilich mögen Menschen nicht glauben, die diese Stufe der Freiheit nicht erreichen. Gefangen in der lange eingeübten Ohnmacht, der eigenen Kräfte nicht sicher, erscheint diesem Typus der Übergang in die Verantwortung als Überforderung oder Zumutung. Sie fremdeln in der offenen Gesellschaft. Fremdheit, das muss uns klar sein, gehört dazu. Aber sie ist keine Verurteilung für immer; Fremdheit wandelt sich für den, der sich einbringt, der anfängt zu wählen, sich vielleicht irgendwo wählen lässt, der sich einmischt und so auf diese Weise ein Teil dieser offenen Gesellschaft wird.
Angst ist auch heute noch präsent
Darüber hat Erich Fromm schon in den 40er Jahren in seiner Arbeit „Furcht vor der Freiheit“ gesprochen. Wenn wir ihm folgen, erscheint die Furcht vor der Freiheit nicht nur als die Angst der freiheitsungewohnten früheren Diktaturbewohner, vielmehr als anthropologische Konstante. Früher dachte ich, die Ferne von der Freiheitsliebe und die Furcht vor der Freiheit sei ein spezifisch deutsches Problem. Fromm hat mich eines Schlimmeren belehrt. Jeder Schritt in Richtung eines selbstbestimmten Lebens ist mit neuen Unsicherheiten bedroht. Jede neu gewonnene Freiheit erscheint dem Menschen manchmal als unerträgliche Last. Es gibt ein Leiden an der Freiheit, gefolgt von der verborgenen Sehnsucht nach dem Paradies, ob religiöser oder politischer Natur. Das machte den Kommunismus so verführerisch: Er überträgt die Vision vom Reich Gottes ins Politische und saugt dann Glaubenssubstanz vom Menschen. Die Kommunisten wollten den religiösen Glauben nicht. Sie ersetzten ihn durch einen üblen Aberglauben und brachten Millionen von Menschen um ihre Würde und Millionen um ihr Leben. Wie könnten sie jemals wieder glaubwürdig sein?
Wir erleben zurzeit eine vor 20 Jahren nicht vorstellbare antikapitalistische Welle. Die Angst vieler Menschen vor Verlust, der berechtigte Zorn über verantwortungslose, der Hybris verfallene Akteure lassen viele die Systemfrage stellen. Doch wer einen Systemwechsel fordert oder propagiert, sollte Alternativen an der Hand haben. Es gibt ganz offensichtlich Missbräuche in der Geldwirtschaft. Ein mittelalterliches Schicksalsdenken wachzurufen, das die Menschheit bedroht sieht von apokalyptischen Gewalten, befeuert aber nur Frustration und Ohnmacht. Der „Gewinn“ dieser Ohnmacht heißt: Ich bin unzuständig, ich kann nichts dafür. Ich aber wünsche mir Mitbürgerinnen und Mitbürger, die lieber irren, wenn sie Initiative ergreifen und einen neuen Weg gehen, als solche, die nie an etwas schuld sind.
Unser Sozialstaat braucht den Kapitalismus
Wer Freiheit will, der muss auch zur Freiheit der Wirtschaft stehen. Und vor allem derjenige, der die Fürsorge für Schwache in einer starken Sozialpolitik fordert, sollte nie übersehen, dass wir nur in sehr gut funktionierenden kapitalistischen Ökonomien die Mittel erwirtschaften konnten, die für einen wahrhaftigen Sozialstaat erforderlich sind. Der Sozialismus hat diese Mittel nicht erwirtschaftet. Wer heute neu von ihm träumt, sollte sich fragen, warum Rezepte von vorgestern, die schon gestern unwirksam waren, ausgerechnet morgen wirken sollten!
Erwachsene Menschen bleiben nüchtern, sie nennen eine Krise nicht gleich eine Katastrophe. Sie wissen, dass es in der Politik nicht darum geht, ein Paradies zu schaffen, sondern eine Bürgerexistenz, eine Herrschaft der Demokratie und Rechts. Es ist dort nicht alles vollkommen, aber schon einmal etwas, das sich lieben lässt. |
Quelle: WELT DEBATTE
http://debatte.welt.de/kommentare/126002...alstaat+leisten
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