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RE: Deutsche Tafel e.V. |
Beitrag Kennung: 172616
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Ganz unten: Die Tafel
Vor vier Jahren sollte ich meine Unterschrift rechtskräftig unter eine gefälschte Kundenbilanz setzen. Ein siebenstelliger Eurobetrag wäre zugunsten meines damaligen Chefs gefallen. Zur eigenen Absicherung bat ich seinerzeit um eine schriftliche Erteilung dieses Arbeitsauftrags. Stattdessen erhielt ich die Kündigung - wegen Arbeitsverweigerung. Damals war ich 46. Mein zuständiger Fallmanager in der Bundesagentur für Arbeit meinte nur, dass ich doch bereits viel zu alt zum Arbeiten sei.
Heute - nachdem ich im Laufe der Jahre gut 360.000 Euro in die Sozialversicherung habe zwangseinzahlen müssen - bin ich langzeitarbeitslos, ALG-II-Empfänger und zähle zu den sogenannten „Hartz-IV-Sozialschmarotzern“: Arbeitsunwillig und ungebildet. Aber stimmt das so wirklich?
Ich habe den gesamten Weg des sozialen Abstiegs mitgemacht. Vom qualifizierten Forschungsleiter in der Chemieindustrie über einen unbefriedigenden, mehrjährigen Job als Controller und danach als Arbeitsloser bis hin zu jemandem, dem man die Grundrechte mehr oder weniger aberkannt hat.
Jemandem, der heute um sein Überleben kämpft. Ich habe zwei minderjährige Kinder mit knurrenden Bäuchen. Da meine Frau als kleine Angestellte befristet halbtags beschäftigt ist und knapp 700 Euro verdient, bekomme ich anstelle der 347 Euro nur 250. 190 Euro davon verplant das Amt für mich. Für Bewerbungskosten. Vom Rest kann unsere Familie laut höchstrichterlichem Beschluss „in Würde leben“. Klasse! Wie hoch ist eigentlich das Gehalt eines dieser Richter?
Weder in den Zeitungen noch im Internet waren Jobangebote zu finden; ich bin aber ohnehin schon bei rund 300 vergeblichen Bewerbungen angekommen. Was die Bundesagentur anbot, das erwies sich bei näherem Hinsehen als medienwirksame Karteileiche - wie üblich. Verbitterung macht sich breit. Wie in jedem Monat habe ich mich daher ins Auto gesetzt und ungeachtet der exorbitant hohen Spritkosten die Unternehmen im großen Umkreis abgegrast. Wie in jedem Monat bin ich nie über den Empfangsbereich hinaus gekommen und musste mir Sprüche wie „Greise stellen wir nicht mehr ein!“ anhören. Greise? Ich bin jetzt 50! Wenn es nach unseren Politikern geht, dann muss ich noch 17 Jahre arbeiten. Ich bin wieder mal früh losgefahren, denn die maßgeblichen Leute erwischt man nur schwerlich nach neun Uhr morgens. Die Tafel war auf dem Rückweg. Mit der Öffnungszeit passte es auch.
Deswegen stehe ich jetzt hier, vor dem Eingang der Armentafel in einer norddeutschen Kleinstadt. Es ist Viertel vor elf. Von elf bis eins soll die Lebensmittelausgabe sein. Ich bin zum ersten Mal hier und habe keinen blassen Schimmer, was mich erwartet. Warte. Mit mir warten noch rund fünfzig andere Personen. Alles Leute in meinem Alter, die ich größtenteils vom Sehen her kenne. Kaum Ausländer. Einen der Wartenden kenne ich flüchtig. Er war früher Entwicklungsingenieur bei einem Weltmarktführer im Bereich Aufzüge und Fahrtreppen. Bei dem Unternehmen, das so ziemlich alle deutschen Kaufhäuser mit Rolltreppen beliefert hat, bevor man die Produktion nebst Wartung aus Lohngründen ins Ausland verlagerte. Jetzt steht er hier. Wie ich. Aber was soll’s, das ist eben Globalisierung. Und für den Aufschwung müssen wir alle Opfer bringen! Es lebe die deutsche Wirtschaft!
Alle Anwesenden blicken betreten nach unten. Es ist peinlich und entwürdigend hier zu stehen. Niemand hat noch soviel Selbstvertrauen, dass er dem Gegenüber in die Augen sehen kann. Gebrochene Menschen. Oder ist das gar beabsichtigt? Die letzten Reste von Selbstvertrauen und Menschenwürde sind durch die Schikanen des Jobcenters abhanden gekommen. Nur wenige sprechen miteinander. Ich höre zu, erfahre, dass man auf den Wagen der Tafel wartet. Den Wagen, der die abgelaufenen Lebensmittel in den Geschäften der Umgebung eingesammelt hat. Für uns, die wir hier stehen, ist so etwas - ist so eine „Biomüllentsorgung durch die Hintertür“ - gerade gut genug. Ich wünschte, einer unserer verantwortlichen Politiker würde hier stehen. Ein Herr Scholz zum Beispiel. Oder eine Frau Merkel.
Doch weder Herr Scholz noch Frau Merkel tauchen auf. Der Wagen mit den Lebensmitteln - oder Lebensmittelabfällen? - auch nicht. Er steckt irgendwo im Stau. Wir warten weiter. Autos fahren vorbei. Aus dem offenen Fenster eines Lieferwagens wird uns zugebrüllt: „Ihr faulen Schweine!“ und: „Geht lieber arbeiten!“ Ich blicke zu dem Fahrzeug hin. Auf seinem Armaturenbrett liegt eine allseits bekannte und für ihre äußerst zweifelhafte Berichterstattung berüchtigte Tageszeitung. „Wieder einer, der sich seine Meinung jeden Morgen am Kiosk kauft“, denke ich. Aus einem noblen Audi schreit der nach Geschäftsmann aussehende Fahrer: „Sozialschmarotzer!“ und: „Gesindel!“. Netter Mitmensch. Das soziale Klima in diesem unserem Lande entspricht dem in tiefster Eiszeit.
Ich warte weiter. Wir warten. „So etwas wie ihr gehört ins Arbeitslager!“ Mal wieder ein Autofahrer. Ich schätze ihn auf etwas über 30. Spätestens in 15 Jahren wird er das Gleiche wie ich durchleben müssen und danach - falls er’s überlebt - husch, husch, ab in die Altersarmut. Viel Vergnügen! Mit den Autos kommen weitere Beschimpfungen. Ich höre weg. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Ich frage mich so langsam, was aus diesem Land geworden ist. Es ist Viertel nach elf. Ich überlege, warum ich fünf abgeschlossene Berufe erlernt habe. Warum ich dafür über zig Jahre hinweg meinen Feierabend und die Wochenenden opferte. Warum ich dadurch meine Familie vernachlässigte. Was mir über dreißig Jahre Berufserfahrung und über 80 Weiterbildungen nützen. Und von welchem seltsamen Stern diejenigen kommen, die das Rentenalter auf 67 setzen, lauthals den Fachkräftemangel in der Industrie beklagen und die vor einer Parallelgesellschaft von Migranten warnen. Die dabei aber geflissentlich übersehen, dass sie selbst eine Parallelgesellschaft von sozial Schwachen installiert haben und nun zementieren. Die sich lautstark über Menschenrechtsverletzungen in China mokieren, im eigenen Land aber die Augen verschließen.
Meine Frau hat mir einen Zettel mitgegeben - eine Liste der Lebensmittel, die wir wirklich gebrauchen können: Äpfel, Zwiebeln, Möhren, Toastbrot, Joghurt und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Ich habe keine Ahnung, ob ich mit diesem Zettel hier irgendwas bewerkstelligen kann. Ich habe keine Ahnung, wie das hier abläuft. Zwanzig nach elf. Der Wagen kommt. Er ist unverkennbar. „Die Tafeln - Essen, wo es hingehört“ steht auf der Motorhaube. Das Fahrzeug wird entladen und ich schaue zu. Berge von Brot und sehr viel Gemüse. Keine Nudeln, die sich halten würden.
Keine Konserven. Schlechtes Zeichen. Das alles sind mit Ausnahme des Brotes Lebensmittel, die keiner wirklich braucht. Weil nämlich die, die man wirklich täglich benötigt, normalerweise gekauft werden und nicht überlagern. Deswegen spendet die auch keiner. Deprimierend.
Es dauert noch einmal eine knappe halbe Stunde, bevor die Tafel mit einer dreiviertel Stunde Verspätung endlich ihre Pforten öffnet. In diesem Zeitraum erfolgt eine grobe Vorsortierung der Lebensmittel durch die Tafelmitarbeiter. Das, was wirklich offensichtlich ungenießbar ist, wird gleich weggeworfen. Alles andere gelangt zur Verteilung.
Die Tür öffnet sich und die Menschen steigen hinunter in den Kellerraum. Dort ist es ziemlich dunkel, nur zwei Neonröhren spenden ein wenig Licht. Gerade gut genug für uns. Wir liegen ja dem Staat auch nur auf der Tasche. Zwei Mütter mit Kleinkindern sind dabei. Ich bedauere diese Kinder. Welche Zukunft können die schon haben? Welche Zukunft haben meine eigenen Kinder?
An der Tür steht ein Helfer der Tafel. Er zählt die Eintretenden. Bei dreißig ist Schluss. Mehr gibt’s nicht und wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Zwanzig Leute gehen leer aus und werden mit knurrendem Magen wieder nach Hause geschickt. Wovon leben die jetzt? Drinnen lotst man uns in einen eigentlich viel zu kleinen Warteraum, der nur durch einen Vorhang von der Essensausgabe abgeteilt ist. Es werden Losnummern verteilt. Ich habe die Nummer elf. Die Lose sind der verzweifelte Versuch, so etwas Ähnliches wie Gerechtigkeit oder Chancengleichheit auf eine Ebene zu bringen, auf der diese beiden Begriffe schon längst jede Bedeutung verloren haben.
Die Losnummern werden nacheinander aufgerufen. Immer tritt ein Mensch vor und erhält nach Vorlage eines Tafelausweises eine zugeteilte Lebensmittelration. Nichts mit Aussuchen. Den Zettel von meiner Frau kann ich vergessen. Die Rationen sind anfangs groß und werden mit aufsteigender Losnummer immer kleiner. Mit der Elf habe ich noch richtig Glück gehabt. Aber ich habe keinen Tafelausweis. Stattdessen schleppe ich den Hartz-Bescheid mit. Da ist jemand vor mir dran, der wohl nur hin und wieder mal vorbei kommt. Ich frage mich warum und wie der sich das erlauben kann. Später - zuhause - werde ich es noch erfahren.
Eine Dame vor mir geht leer aus. Ihr Hartz-Bescheid ist im letzten Monat abgelaufen. Vor vier Wochen hat sie die Weiterbewilligung beantragt und seither noch nichts davon gehört. Das Jobcenter ist eben nicht das schnellste. Jetzt bekommt sie gar nichts. Weder Unterstützung seitens der Behörde noch hier etwas zu essen. Sie verweist auf zwei Kinder. „Tut uns wirklich leid“ und ein bedauerndes Schulterzucken sind die Antworten. Unverrichteter Dinge geht sie. Sie steht jetzt vor der Wahl, die ich auch schon mal hatte: Illegal zu überleben oder ganz legal zu verrecken. Die Berichte aus der Berliner Umschau und aus der Zeit über verhungerte Hartz-IV-Empfänger fallen mir wieder ein.
„Die Elf!“ Nach nochmals einer halben Stunde Wartezeit bin ich dran und trete zum Ausgabetresen. Die Dame ist sehr freundlich. Ich erzähle ihr, dass ich zum ersten Mal hier und völlig ahnungslos hinsichtlich des Ablaufs bin. Sie möchte meinen Hartz-Bescheid sehen, sieht drauf und stutzt. Winkt ihrer Kollegin. Beide schauen auf das amtliche Schreiben. In ihren Gesichtern arbeitet es. Ich spüre die nur mühsam unterdrückte Wut der beiden. „Monatlich 250 Euro für 'ne vierköpfige Familie. Die merken doch wirklich nichts mehr!“
Die erste Dame schaut mich mitleidig an und erklärt: „Bei uns hier läuft das so: Jeder, der weniger als den Hartz-IV-Regelsatz bekommt, hat Anspruch auf eine Essensration für drei Tage. Bei Ihnen sind das vier Personen mal drei Tage macht zwölf Rationen. Erwachsene zahlen pro Ausgabe einen Euro und Kinder fünfzig Cent. Ihre zwölf Rationen kosten daher drei Euro. Sie können montags und donnerstags oder aber dienstags und freitags vorbeikommen. An den anderen Tagen ist geschlossen. Wenn Sie sich überlegt haben, wann Sie kommen wollen, dann erhalten Sie auch einen Ausweis.“ Danach nimmt sie erst einmal meine Personalien auf und schreibt die Angaben des Hartz-Bescheides ab. Verwaltung muss auch hier sein. Aber die ist sehr viel freundlicher und menschlicher als das kalt abweisende und lebensverachtende Getue im Jobcenter. Ich werde mit Lebensmitteln überhäuft. Alles kann ich unmöglich tragen und so verzichte ich auf einiges. Andere wollen auch noch etwas haben und freuen sich darüber, mit hoher Losnummer größere Rationen zu bekommen. Was ich erhalte: Viel Gemüse, etwas Obst, Brot, Brötchen, Frischkäse, Kekse und ein paar Sachen, die ich nicht einordnen kann. Das, was ich zu tragen vermag, nehme ich an und zahle dafür meine drei Euro.
Irgendwie schaffe ich das alles zum Auto und fahre nach Hause. Da ist es hell, da kann sortiert werden. Meine Frau staunt nur noch, als ich auslade. Sie freut sich wie zu Weihnachten. Doch der Dämpfer kommt schnell, nämlich beim Sortieren.
Die Kekse erweisen sich als acht Monate überlagert. Ich öffne sie; sie riechen seltsam. Lieber nicht. Ein Fall für die Biotonne. Jetzt weiß ich, warum der Mann vor mir nur sporadisch bei der Tafel auftauchte. Die Bananen haben Haare. Die Ananas ist verfault. Der Salat ist ziemlich welk und nachdem das entfernt wird, bleibt nicht mehr soviel übrig. Der Frischkäse ist noch einen Tag lang haltbar, der Kartoffelsalat ebenso. Drei Bockwürste - auch nur noch einen Tag haltbar - sind dabei, für jeden Tag eine und durch vier zu teilen. Vielleicht geht das ja bei kühler Lagerung... und so begutachten wir weiter. Am Ende sind rund die Hälfte der Lebensmittel als extrem zweifelhaft aussortiert worden wegen Schimmel, Angefaultem, streng Riechendem usw.
Im dunklen Kellerraum hat das keiner sehen können und so ist den Tafelmitarbeitern auch kein Vorwurf zu machen. Die haben ihr Bestes gegeben. Nur drängt sich mir der Gedanke auf, was das für Geschäftsleute sind, die so etwas den Menschen als vermeintliche „Spende“ zumuten. Alles zusammen hätte wohl durchaus für drei Tage ausgereicht - und meine ganze Familie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ins Krankenhaus gebracht. Mindestens jedoch zum Arztbesuch gezwungen. Das, was genießbar ist, reicht nicht für drei Tage. Ziemlich ernüchternd. Macht nichts. Die Mehrheit der Deutschen ist sowieso zu dick. Ich weiß wirklich nicht, ob ich die Tafel noch einmal besuchen werde.
Was mich dabei am Meisten schockiert, sind nicht die Beschimpfungen während des Wartens und die entwürdigende und deprimierende Tatsache der Armenspeisung. Es ist auch nicht die Tatsache, dass Geschäftsleute sozial Schwache als Biomüllentsorger missbrauchen, und nicht die Tatsache, dass sowohl Politiker wie auch Medien solche Verhältnisse totschweigen. Was mich wirklich schockiert sind die vielen bekannten Gesichter. Die Gesichter derjenigen, die mit mir dort gewartet haben. Die Gesichter der Personen, von denen jeder annimmt, dass sie Arbeit haben. Wirklich toll, so etwas. Es lebe der Aufschwung!
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