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RudiRatlos Benutzerkonto wurde gelöscht
04.09.2009 ~ 23:36 Uhr ~ RudiRatlos schreibt:
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RE: Einen Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus? |
Beitrag Kennung: 316558
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Vielleicht findest du die Antwort hier:
Freiheitskämpfer Kolakowski
"Ich rechne nicht mit dem Tod Gottes"
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Am 17. Juli 2009 starb der große polnische Philosoph Leszek Kolakowski. Er war ein mutiger Kämpfer gegen den Kommunismus und für die Freiheit. Zeit seines Lebens dachte er über das Böse nach und setzte ihm den Glauben entgegen. Kurz vor seinem Tod sprach er mit WELT ONLINE
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WELT ONLINE: Eines Ihrer Bücher heißt „Die Moderne auf der Anklagebank“. Aber ist der Prozess nicht gelaufen, das Urteil gefällt? Der religiöse Fundamentalismus ist zurück. Ist das letzte moderne Jahrhundert zu Ende gegangen?
Leszek Kolakowski: Wir machen die Erfahrung, dass viele der im 19. Jahrhundert auf rationaler Grundlage getroffenen Vorhersagen falscher sind als die sogenannten Illusionen, mit denen sie aufräumen wollten.
Sowohl säkulare Liberale als auch Sozialisten haben erwartet, dass die nationalen oder tribalen Leidenschaften nach und nach verschwinden und verbesserte Kommunikationstechniken und ein besseres wissenschaftliches Verständnis des Universums an ihre Stelle treten würden. Doch so ist es nicht gekommen.
Das Bedürfnis, einem Stamm zuzugehören, wenn man so sagen will, ist so groß wie ehedem. Nationale Konflikte scheinen nicht zu verschwinden. Tatsächlich könnte die „Rückkehr der Unterdrückten“ in der Sowjetunion und anderen vom Kommunismus befreiten Staaten eine besonders garstige Form annehmen. Darüber hinaus haben sich auch die rationalistischen Vorhersagen über die Religion als falsch erwiesen. Ich rechne nicht mit dem Tod der Religion oder dem Tod Gottes.
Das technisch am weitesten entwickelte Land der Welt, die Vereinigten Staaten, ist bei weitem nicht das am meisten säkularisierte. Gewiss, das Christentum ist geschwächt. So es sich der Zivilisation des neuen Jahrtausends anpasst, könnte es aber eine Erneuerung erleben.
Weit davon entfernt, unerbittlich zum Tod der Religion zu führen, hat die Säkularisierung stattdessen zur Suche nach neuen Formen religiösen Lebens geführt. Zum unmittelbar bevorstehenden Sieg des Königreichs der Vernunft ist es nie gekommen. Der Mensch lebt nicht von der Vernunft allein.
WELT ONLINE: Sie sprechen den Zusammenbruch des Kommunismus an. Der polnische Dichter Czeslaw Milosz hat diesbezüglich von tief bewegenden Worten aus Prag oder Warschau gesprochen, die die Ehrlichkeit und die Würde des Einzelnen hochhielten. Diese Ideen jedoch gründeten in der Religion, deren Überleben in Zweifel stehe.
Kolakowski: Ich hoffe, Milosz hat Unrecht, aber sicher kann ich nicht sein. Eine technologisch fortgeschrittene Schöne Neue Welt, in der die Menschheit ihr religiöses Erbe und ihre historische Tradition vergessen hat – und also keine Grundlage mehr, ihr eigenes Leben in moralische Begriffe zu fassen –, würde das Ende der Menschheit bedeuten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Menschheit – ihres historischen Bewusstseins und ihrer religiösen Traditionen beraubt, weil diese technologisch nutzlos sind –, in Frieden leben könnte, zufrieden mit ihren Errungenschaften. Tatsächlich würde ich das Gegenteil annehmen, liegt es doch im menschlichen Wesen, dass unsere Wünsche keine Grenzen haben. Sie können unaufhörlich wachsen, in einer endlosen Spirale der Gier. Während der letzten Jahrzehnte rasanten wirtschaftlichen Wachstums haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, dass wir Modernen alles haben können und, in der Tat, auch alles verdienen. Aber das ist einfach nicht wahr. Da es auf unserem Planeten natürliche Grenzen gibt – ökologische und demografische Grenzen –, werden wir gezwungen sein, unsere Wünsche zu beschränken.
Doch ohne ein Bewusstsein für Grenzen, das nur aus der Geschichte und der Religion kommen kann, wird jeder Versuch, unsere Wünsche einzuschränken, in furchtbarer Frustration und Aggression enden, was katastrophische Ausmaße annehmen könnte. Der Grad von Frustration und Aggression hängt dabei nicht vom Grad einer absoluten Befriedigung ab, sondern von der Lücke, die zwischen den Wünschen und ihrer wirkungsvollen Befriedigung klafft. Die religiöse Tradition hat uns Beschränkung gelehrt. Alle großen religiösen Traditionen haben uns über Jahrhunderte gelehrt, uns nicht an eine Dimension allein zu binden – die Akkumulation von Reichtum und die ausschließliche Beschäftigung mit unserem gegenwärtigen materiellen Leben. Sollten wir die Fähigkeit verlieren, diese Distanz zwischen unseren Wünschen und Bedürfnissen aufrechtzuerhalten, wäre das eine kulturelle Katastrophe. Das Überleben unseres religiösen Erbes ist die Bedingung für das Überleben der Zivilisation.
WELT ONLINE: Die kulturelle Katastrophe wäre, dass es ohne religiöse Tradition keine moralischen Bremsen gäbe, in Sonderheit für die Unersättlichkeit des „Homo consumptus“?
Kolakowski: Ja, keine moralischen Bremsen. Wenn die Kultur den Sinn für das Heilige verliert, verliert sie allen Sinn. Mit dem Verschwinden des Heiligen, das der Perfektion dessen, was eine säkulare Gesellschaft erreichen kann, Grenzen setzt, erwacht eine der gefährlichsten Illusionen unserer Zivilisation – die Illusion, dass es keine Grenzen der Veränderung gebe; dass die Gesellschaft ein unendlich flexibles Ding wäre, den arbiträren Launen unserer kreativen Möglichkeiten unterworfen.
Am Ende sät diese Illusion verhängnisvolle Verzweiflung. Die moderne Chimäre, die dem Menschen totale Freiheit von der Tradition oder jeglichem vorexistentem Sinn verspräche, weit davon entfernt, ihm eine Perspektive göttlicher Selbsterschaffung zu eröffnen, schickt ihn in eine Finsternis, in der alles mit gleicher Gleichgültigkeit betrachtet wird. Das utopische Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erfinden, die utopische Hoffnung auf grenzenlose Perfektion könnte das wirkungsvollste Instrument des Selbstmords sein, das die menschliche Kultur je geschaffen hat.
WELT ONLINE: Ihre Betonung eines vorexistenten Sinns hat sie zu der Frage geführt, ob eine Gesellschaft ohne konservative Kräfte, die sich der unaufhörlich wandelnden Moderne entgegenstellen, überleben kann. Könnten aber angesichts des ökologischen Imperativs nicht neue konservative Werte entstehen, die statt der Vergangenheit die Zukunft zu bewahren suchen? Warum nicht auf ein Ergrünen des religiösen Erbes schauen statt zurück auf die Orthodoxie?
Kolakowski: Gewiss kann religiöser Glaube dem menschlichen Ehrgeiz Grenzen setzen und die Zukunft bewahren. Doch dem Glauben an ein grünes Utopia sollte man mit so viel Vorsicht begegnen wie dem Glauben an ein rotes. In jedem Fall brauchen wir keine Religion, um die ökologische Katastrophe zu fürchten. Religion kann nicht an die Stelle dessen treten, was Wissenschaft und Technologie zu lösen vermögen; sie kann uns nur zu der Überzeugung führen, dass es einen Sinn gibt, der nicht unmittelbar wahrgenommen und als wissenschaftliche Tatsache dargestellt werden kann. Die Religion entstammt einer anderen Dimension, die uns befähigt, Scheitern, Leiden und Tod zu verkraften. In diesem Sinn geht es in der Religion nicht um das Überleben, sondern darum, nicht zu überleben. Sie ist des Menschen Weg, die unausweichliche Niederlage zu akzeptieren. Für die Menschheit gibt es so etwas wie den ultimativen Sieg nicht. Am Ende sterben wir.
WELT ONLINE: Könnten wir ethische Werte nicht auf Vernunft gründen? Muss persönliche Verantwortung im Glauben wurzeln?
Kolakowski: Offensichtlich können Einzelne hohe moralische Standards aufrecht erhalten und zugleich areligiös sein. Dass auch Zivilisationen das können, bezweifle ich. Welchen Grund gäbe es ohne religiöse Traditionen, die Menschenrechte und die Menschwürde zu achten? Was ist Menschwürde, wissenschaftlich gesehen? Aberglaube? Empirisch gesehen sind die Menschen ungleich. Wie können wir Gleichheit rechtfertigen? Die Menschenrechte sind eine unwissenschaftliche Idee.
WELT ONLINE: Könnte aus der neuen globalen kapitalistischen Ordnung eine neue Form des Totalitarismus entstehen? Ein Totalitarismus der unmittelbaren Befriedigung, in dem das Eigeninteresse die Vernunft bedingt?
Kolakowski: Das Fehlen einer Dimension der Transzendenz schwächt die soziale Übereinkunft, der zufolge man die eigene Freiheit begrenzt, um mit den anderen in Frieden zu leben. Ein solcher Interessenuniversalismus ist ein weiterer Aspekt der modernen Illusion. Eine wissenschaftlich begründete menschliche Solidarität gibt es nicht. Gewiss kann ich mich davon überzeugen, dass es nicht in meinem Interesse liegt, zu rauben, zu vergewaltigen oder zu morden, weil das Risiko zu groß ist. Das ist das Hobbes’sche Modell: von der Furcht gezügelte Gier. Doch das soziale Chaos steht im Schatten einer solchen moralischen Anarchie. Wenn eine Gesellschaft aus Umsicht allein an moralischen Normen festhält, ist sie extrem schwach und ihr Stoff reißt bei der kleinsten Krise. In einer solchen Gesellschaft gibt es für persönliche Verantwortung, Barmherzigkeit und Mitleid keine Basis. Nun wird mit dem ökologischen Imperativ ein neues Ethos der Selbsterhaltung diskutiert. Bis zu einem gewissen Maß mag es stimmen, dass wir instinktiv auf Arterhaltung programmiert sind. Doch die Geschichte des letzten modernen Jahrhunderts hat unmissverständlich gezeigt, dass wir Mitglieder unserer eigenen Spezies ohne große Hemmungen vernichten können. Sollte es tief unten auf biologischer Ebene eine Solidarität der Spezies geben, so hat sie uns davor nicht bewahrt. Also brauchen wir Instrumente menschlicher Solidarität, die sich nicht auf unsere Instinkte, Eigeninteressen oder auf Gewalt gründen. Der kommunistische Versuch, Solidarität zu institutionalisieren, ist in der Katastrophe geendet.
Das Gespräch führte Nathan Gardels von Global Viewpoint.
Aus dem Englischen von Wieland Freund
http://www.welt.de/kultur/literarischewe...Tod-Gottes.html
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