Die Bolschewiki und der Islam
14. November 2016 - 12:13 | Gastbeitrag | Gesellschaft |
In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime, das entspricht 5 Prozent der Bevölkerung. Die deutsche Linke ist säkular und teilweise antireligiös eingestellt. Daher ist sie in muslimischen Milieus nur wenig erfolgreich. Die russischen Bolschewiki verfolgten einen anderen Ansatz.
99 Jahre nach der Oktoberrevolution lohnt es sich, auch einen Blick auf die Religionspolitik der Bolschewiki zu werfen. Es gab unter ihnen herbe Auseinandersetzungen über ihre Haltung zur Religion. Viele Bolschewiki, auch Angehörige der Führung, machten keinen Unterschied zwischen der Religion des Unterdrückers und der der Unterdrückten. Ihnen galt jede Religion als Feind. Lenin hielt dagegen, dass diese abstrakte Opposition gegen nationale und religiöse Rechte leicht in das Fahrwasser eines wiederauflebenden russischen Chauvinismus geraten konnte.
Ob Marxistinnen und Marxisten aktiv die Forderung nach Religionsfreiheit aufgreifen, hängt von den konkreten Umständen ab, nicht von abstrakten Parolen. Die anscheinende Toleranz der Bolschewiki gegenüber dem Scharia-Gesetz war eine Anerkennung der Tatsache, dass der islamische Konservativismus nur dann zurückgedrängt werden konnte, wenn mit der großrussischen chauvinistischen Politik gebrochen wurde. Nur dann konnten die religiösen Eliten nicht mehr so leicht Menschen klassenübergreifend um die Moschee scharen, und die Klassenspaltungen in der muslimischen Gesellschaft konnten zu Tage treten.
Religion als Sprache der Unterdrückten Die Bolschewiki gingen davon aus, dass Menschen, die zum ersten Mal in Kontakt mit sozialistischen Organisationen treten, religiösen Überzeugungen anhängen, die sie nur verlieren werden, wenn sie sich ihrer eigenen Macht, die Welt zu verändern, gewiss werden.
Lenin meinte, es käme politischem Selbstmord gleich, darauf zu pochen, dass diese Menschen vor Eintritt in eine revolutionäre Partei ihre religiösen Ideen aufgeben. Im Gegenteil: Er forderte, Gläubige „zielstrebig“ für die Partei zu gewinnen. „Wir sind unbedingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen Überzeugungen“, schrieb er 1909.
„Die soziale Unterdrückung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus,
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Muslime und Sowjets
Religionsfreiheit war für die unterdrückten Völker der ehemaligen russischen Kolonien ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Freiheit. Das Ziel der bolschewistischen Politik bestand darin, so weit wie möglich Wiedergutmachung für die Verbrechen des Zarismus an nationalen Minderheiten und ihren Religionen zu leisten. Dabei ging es nicht nur um eine Frage einfacher Gerechtigkeit und grundlegender Demokratie, sondern auch darum, dass auf diese Weise die Klassenunterschiede unter den Gläubigen in den Vordergrund rücken konnten. Nationale Autonomie und Unabhängigkeit von Russland wurden so zu einem entscheidenden Bestandteil sowjetischer Politik. In einer Erklärung der jungen Sowjetregierung „an alle werktätigen Mohammedaner Russlands und des Ostens“ vom 24. November 1917 hieß es:
„Muslime Russlands … ihr, deren Moscheen und Gebetshäuser von den Zaren und Unterdrückern Russlands verwüstet wurden, deren Überzeugungen und Sitten mit Füßen getreten wurden: Euer Glaube und eure Sitten, eure nationalen und kulturellen Einrichtungen sind für immer frei und unantastbar. Wisset, dass eure Rechte wie die aller Völker Russlands unter dem mächtigen Schutz der Revolution stehen.“
Ein umfangreiches Programm mit dem Titel „Korenisazija“ (Indigenisierung) wurde aufgelegt, das heute als „positive Diskriminierung“ bezeichnet würde. Als Erstes wurden die russischen und kosakischen Kolonisten und ihre Ideologen in der russisch-orthodoxen Kirche kaltgestellt. Die Vorrangstellung der russischen Sprache wurde aufgehoben, und in den Schulen, Regierungen und Verlagen durften wieder Regionalsprachen benutzt werden. Einheimische nahmen führende Positionen im Staat und den kommunistischen Parteien ein und wurden bei Stellenbesetzungen vor den Russen bevorzugt. Universitäten wurden eingerichtet, um eine neue Generation nichtrussischer Führungskräfte auszubilden.
Die Einführung des Scharia-Gesetzes hatte während der Februarrevolution von 1917 zu den Kernforderungen der muslimischen Gläubigen gehört. Und als sich der Bürgerkrieg 1920/21 dem Ende näherte, wurde in Mittelasien und dem Kaukasus ein paralleles Rechtssystem geschaffen, in dem die islamischen Gerichte in Übereinstimmung mit den Scharia-Gesetzen neben den sowjetischen Rechtsinstitutionen Recht sprachen. Die Menschen sollten die Wahl zwischen religiöser und revolutionärer Gerichtsbarkeit haben. Einige Scharia-Strafen wie das Steinigen oder Handabschlagen wurden verboten. Diesbezügliche Entscheidungen eines Scharia-Gerichts mussten durch höhere Justizorgane bestätigt werden. Ein parallel laufendes Bildungssystem wurde ebenfalls eingerichtet.
Einige Muslimas und Muslime zogen revolutionäre Schlussfolgerungen und traten kommunistischen Parteien bei. Trotzki stellte 1923 fest, dass in einigen Südrepubliken 15 Prozent der Parteimitglieder gläubige Muslime waren. In bestimmten Gegenden Mittelasiens bestand die kommunistische Partei aus bis zu 70 Prozent muslimischen Mitgliedern. Sie brachten Reste ihrer religiösen Sitten und ihres Glaubens mit: Mitte der 20er Jahre trugen sogar Ehefrauen hochrangiger kommunistischer Parteimitglieder in Mittelasien den Schleier.
Es hatte allerdings harter Arbeit bedurft, die russischen Chauvinisten in Mittelasien zu bekämpfen, die nach 1917 auf den revolutionären Zug aufgesprungen und unter Missbrauch der Parole „Arbeitermacht“ gegen die örtliche, überwiegend bäuerliche Bevölkerung vorgegangen waren. Zwei Jahre lang war die Region durch den Bürgerkrieg von Moskau abgeschnitten, und diese selbst ernannten „Bolschewiki“ hatten freie Hand, die einheimische Bevölkerung zu drangsalieren. Infolgedessen brach die Basmatschi-Bewegung aus – ein bewaffneter islamischer Aufstand. Lenin sprach von der „gewaltigen, gesamthistorischen“ Bedeutung, die Angelegenheit zu regeln. Im Jahr 1922 wurden über 1500 russische Mitglieder wegen ihrer orthodox-religiösen Überzeugungen aus der Partei in Turkestan ausgeschlossen, aber kein einziger Muslim.
Stalins Angriff auf den Islam
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