Regt euch nicht auf – Erdogan hat Recht!
Angenommen, es gäbe eine deutsche Minderheit in der Türkei – es wäre selbstverständlich, wenn deutsche Politiker zur Pflege der kulturellen Tradition aufrufen würden. Doch der Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, in Deutschland türkische Schulen einzurichten, hat für Empörung gesorgt. Warum eigentlich?
Ein berühmter jüdischer Witz geht so: „Kommt ein Mann zum Rabbi. Rebbe, sagt er, ich möchte mich scheiden lassen.“ Jüdische Witze sind in Deutschland so beliebt wie Klezmer-Musik. Vielleicht weil man auf diese Weise zeigen kann, dass man nicht Antisemit ist, ohne sich zu etwas zu verpflichten.
Zum Beispiel zum Nachdenken darüber, was ein solcher Witz über die jüdische Parallelgesellschaft im Shtetl und im Ghetto sagt: Nämlich dass dort in Hochzeits- und Scheidungsdingen das jüdische religiöse Gesetz galt. Und darüber, wie lange es überhaupt eine jüdische Kultur in Europa gegeben hätte, wenn sich die Juden so assimiliert hätten, wie sie es heute von den muslimischen Zuwanderern gefordert wird. Und darüber, was den deutschen Juden ihre Assimilation genutzt hat.
Weiterführende links
* CDU-Spitzenpolitiker nimmt Erdogan in Schutz
* CSU-Chef stellt EU-Beitritt der Türkei infrage
* Erdogan bekräftigt Warnung vor "Assimilierung"
* Erzbischof von Canterbury will Scharia zulassen
* Scharia in Großbritannien? Inakzeptabel!
Dieser Tage ist in England der anglikanische Erzbischof von Canterbury Rowan Williams unter Beschuss geraten, weil er laut darüber nachdachte, Imamen eine ähnliche Autorität in den muslimischen Gemeinden einzuräumen wie früher den Rabbinern in den jüdischen. Und in Deutschland empört man sich über den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, weil er seinen hier lebenden Landsleuten gesagt hat, Integration sei notwendig, Assimilation aber ein Verbrechen; und weil er über türkische Schulen in Deutschland nachgedacht hat.
Gäbe es eine große deutsche Minderheit in der Türkei, würde man es allerdings für das Selbstverständlichste der Welt halten, wenn deutsche Politiker beim Staatsbesuch die Landsleute zur Pflege ihrer kulturellen Traditionen ermutigen würden. So hielt es Charles de Gaulle bei seinem Besuch bei der französischsprachigen Minderheit in Quebec.
Und was türkische Schule betrifft: In Schlesien etwa, wo es immer noch eine – wenn auch arg dezimierte – deutsche Minderheit gibt, werden selbstverständlich auch deutsche Schulen von der Bundesrepublik Deutschland gefördert. Kein deutscher Politiker hat die Russland- oder Siebenbürgen-Deutschen zur Assimilation, also zur Aufgabe ihres Deutschtums und zur Kappung ihrer Bindungen zu Deutschland aufgefordert.
Und was den Vorschlag des Erzbischofs betrifft: In einem muslimischen Land wie Ägypten, wo es eine bedeutende christliche Minderheit gibt, gelten für die verschiedenen Religionsgemeinschaften verschiedene Regelungen in Sachen Eherecht; in Israel, wo es nicht einmal ein ziviles Eherecht gibt, ist es ähnlich. Übrigens fordert dort niemand die arabischen Bürger des Landes auf, sich zu assimilieren.
Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: In keinem Staat der Erde haben die Staatsbürger das Recht, die Gesetze zu missachten. Daran denken auch weder Williams noch Erdogan. Aber kein Staat der Erde hat das Recht, von seinen Bürgern die Aufgabe ihrer kulturellen und religiösen Identität zu verlangen. Dass Minderheiten auf ihre Eigenheiten bestehen, einschließlich der engen Verbindung zur Heimat, ja auch des Nationalstolzes, ist ihr Menschenrecht.
Dieses Recht wurde mit Füßen getreten, als die deutschen Minderheiten nach dem zweiten Weltkrieg im Namen der ethnischen und kulturellen Homogenisierung aus Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und anderen Teilen Osteuropas vertrieben wurden; dieses Menschenrecht wurde mit Füßen getreten, als die italienische Regierung im Namen der nationalen Einheit eine brutale Italienisierungspolitik in Südtirol durchführte; es würde mit Füßen getreten, wenn man von den hier lebenden Türken nicht nur Integration, sondern auch Assimilation fordern würde. Da hat Erdogan Recht.
VIDEO
UMFRAGE
.
Diskussion um Integration
Erste deutsche Politiker verteidigen Erdogan. Was halten Sie davon?
Richtig so! Die Politiker müssen dafür sorgen, dass die Diskussion nicht ausufert
Das ist doch nur parteipolitisches Geplänkel
Mich interessiert dieses Thema überhaupt nicht
abstimmen Ergebnis
15% Richtig so! Die Politiker müssen dafür sorgen, dass die Diskussion nicht ausufert
81% Das ist doch nur parteipolitisches Geplänkel
4% Mich interessiert dieses Thema überhaupt nicht
Aktuell: 79 Stimmen
Deutschland hat immer noch Schwierigkeiten damit, ein Einwanderungsland zu sein. Ein Einwanderungsland ist nämlich bis zu einem bestimmten Grad auch immer ein multikulturelles Land. Ein Blick in die jiddischen Teile Brooklyns, in die kubanischen Viertel Miamis, in die Chinatowns diverser Großstädte, bestätigt diesen Befund. Mit dem gesellschaftlichen Aufstieg lockert sich für gewöhnlich der ethnisch-kulturelle Zusammenhalt. Wer also Integration will, muss für Aufstieg sorgen; und sich vorher mit dem Faktum des Multikulturalismus anfreunden.
Multikulti ist zum Schimpfwort geworden
Multikulti, einst eine beliebte Losung, ist selbst unter Linksliberalen zu einem Schimpfwort geworden. Das ist schade. Denn Multikulturalismus heißt doch nicht, dass man Ehrenmorde oder andere Formen des Dunkelmännertums gutheißt. Multikulturalismus heißt, dass man die Sitten von Berlin-Kreuzberg nicht einem bayrischen Bergdorf aufzwingt. Und umgekehrt. Multikulturalismus schließt auch das Recht ein, sich zu keiner Religion oder sonst gearteten Gemeinde zu bekennen – das Recht der Bauerntochter aus Bayern, das katholische Milieu zu verlassen, und der Bauerntochter aus Anatolien, das muslimische Milieu zu verlassen.
Der Staat hat auch dieses Recht – ja gerade dieses Recht - zu garantieren. Jeder moderne Staatsbürger ist selbst multikulturell, definiert sich über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen. Darüber wird die Frage der Integration gelöst – dadurch, dass türkische Zuwanderer eben nicht nur zur türkischen Gemeinde gehören, sondern über ihre Einbindung in Schulen, Betriebe, Vereine, Parteien auch an der Zivilgesellschaft partizipieren.
Schlagworte
Erdogan Türkei Assimilation Integration Köln
Ob türkische Schulen dabei eher behilflich oder eher hinderlich sein würden, sollte man im Praxistest prüfen. Statt auf Erdogans Vorschlag mit gereizter Ablehnung zu reagieren, sollte man den türkischen Premier einladen, zwei oder zwanzig Modellschulen zu finanzieren. Deutschlands Türken werden dann mit den Füßen abstimmen; und die Erfahrung lehrt, dass Einwanderer die Schulen wählen werden, die ihren Kindern die besten Aufstiegschancen bieten. Haben die staatlichen Schulen Angst vor diesem Wettbewerb?
Türkische Schulen? Lasst die Praxis entscheiden!
P.S. Wie geht der jüdische Witz weiter? „Der Mann erzählt dem Rabbi, wie schlimm seine Frau ihn behandle. Mein Sohn, du hast Recht, sagt der Rabbi. Du darfst dich scheiden lassen. Kurz darauf kommt die Frau zum Rabbi und beschwert sich: Ihr Mann habe Lügen über sie erzählt. Dabei wolle er sie bloß loswerden, um eine Jüngere zu heiraten. Meine Tochter, du hast Recht, sagt der Rabbi. Die Scheidung kommt nicht in Frage. Da sagt der Schüler des Rabbi, der die ganze Zeit daneben gestanden hat: Aber Rebbe, zwei Parteien können doch nicht gleichzeitig Recht haben? Auch du hast Recht, sagt der Rabbi.“ |